Andere Bezeichnungen mit ähnlicher Bedeutung: Stammformen, Tempusstämme
Definitionen
Unter „Unterstamm eines Verbs“ verstehen wir einen Wortteil des Verbs,
• der vom Verbalstamm abgeleitet ist,
• der in einigen von den Konjugationsformen des Verbs enthalten ist und
• an den (je nach seiner Bildungsweise) eine von mehreren Konjugationen antritt (siehe Konjugationen des Präsensstamms, des Perfektstamms und des Supinstamms).
Ein Unterstamm kann in mehreren Varianten auftreten, deren Unterschiede sich durch die Wirkung von Lautregeln oder lautverändernden Konjugationsregeln erklären lassen.
Im Lateinischen hat das Verb drei Unterstämme, die traditionell Präsensstamm, Perfektstamm und Supinstamm genannt werden.
Unter „Stammformen eines Verbs“ versteht man wenige ausgewählte Konjugationsformen des Verbs, die man zusammen mit den Konjugationen kennen muss, um daraus alle Konjugationsformen des Verbs korrekt bilden zu können. „Stammformen“ heißen sie nicht, weil sie mit den Unterstämmen identisch wären, sondern weil man sich vorstellt, dass alle anderen Verbformen von ihnen „abstammen“, d.h. abgeleitet werden können.
Im Lateinischen gebraucht man als „Stammformen“ folgende vier Formen:
• zwei Formen des Präsensstamms: Infinitiv Aktiv (z.B. amāre) + 1.Person Singular Indikativ Präsens Aktiv (z.B. amō). Aus der Kombination beider Formen lässt sich eindeutig auf die Präsensstamm-Konjugation schließen.
• eine Form des Perfektstamms: 1.Person Singular Perfekt Aktiv (z.B. amāvī).
• eine Form des Supinstamms: das um-Supinum (z.B. amātum; es ist zufällig formgleich mit dem Nominativ Singular Neutrum des vorzeitigen Passivpartizips „PPP“).
Bei Deponentien (= Verben ohne Aktivformen) dienen als Stammformen des Präsensstamms die entsprechenden Passivformen; einen Perfektstamm haben Deponentien nicht, da Perfektstämme generell nur Aktivformen bilden können.
Unter „Tempusstämmen“ des Verbs versteht man diejenigen Unterstämme des Verbs, von denen die Tempora gebildet werden, also im Lateinischen den Präsensstamm und den Perfektstamm. Im weiteren Sinn wird oft auch noch der Supinstamm hinzugerechnet, obwohl von dessen Formen nur das Passivpartizip – und dieses nur als Bestandteil von Umschreibungen – zur Bildung der traditionellen „Tempora“ beiträgt. Dann gilt: Tempusstamm = Unterstamm. Da jedoch die lateinischen Tempusstämme (im Unterschied zu den deutschen und englischen) selber keine Tempusbedeutung haben, sondern nur die daran antretenden Konjugationsendungen, ist die Bezeichnung „Tempusstamm“ im Lateinischen irreführend. (Mit größerem Recht könnte man z.B. amābā- als Tempusstamm bezeichnen, nämlich als Indikativ-Imperfekt-Stamm, da dieser Anteil in allen Konjugationsformen des Indikativs Imperfekt dieses Verbs enthalten ist und nur in diesen.)
Wozu dienen Unterstämme?
Wie in anderen Sprachen, so gibt es auch im Lateinischen mehrere verschiedene Konjugationsmuster, die „Konjugationen“. Im Italienischen, Spanischen, Portugiesischen oder Französischen sagt man, dass ein bestimmtes Verb z.B. nach der a-Konjugation, der e-Konjugation oder der i-Konjugation konjugiert wird. Im Lateinischen, Altgriechischen, Deutschen und Englischen hingegen folgt nicht ein Verb als Ganzes einer bestimmten Konjugation. Vielmehr bildet jedes Verb von seinem Verbalstamm drei Unterstämme (im Griechischen bis zu acht), von denen jeder einzelne dann die Endungen einer bestimmten Konjugation annimmt.
Die Konjugation besteht im Lateinischen, Griechischen, Deutschen und Englischen also aus zwei Teilbereichen:
1. Bildung der Unterstämme des Verbs aus dem Verbalstamm mit Hilfe von Unterstamm-Kennzeichen;
2. Bildung der eigentlichen Konjugationen, d.h. der Endungen, die an diese Unterstämme antreten
(siehe Konjugationen des Präsensstamms, des Perfektstamms und des Supinstamms).
Beispiele für die Unterstammbildung im Lateinischen, Deutschen und Englischen bei Verben mit gleicher Bedeutung zeigt die folgende Tabelle.
In der Tabelle ist wie üblich von jedem Unterstamm eine vollständige Konjugationsform (Unterstamm + Endung, wenn vorhanden) angegeben. Fürs Deutsche und Lateinische sind hier die Endungen mit einem Bindestrich von den Unterstämmen abgetrennt.
Die folgenden Erklärungen beziehen sich auf die Spalten der Tabelle.
(1) Verbalstamm
Der Verbalstamm ist der Anteil, der in allen Formen des Verbs enthalten ist (siehe auch unter Verbalstamm). Dieser Anteil ist oft nicht leicht zu bestimmen. Was ist z.B. der gemeinsame Anteil von iacere und iēcī oder von pellere und pepulī? Deutsch und Englisch haben das gleiche Problem: Welchen Anteil haben „werfen“, „warf“, „geworfen“ oder „throw“, „threw“, „thrown“ gemeinsam? Hier erklären die Grammatiker diejenige Gestalt des Stammes zum Verbalstamm, vom dem sich die anderen Gestalten mit Regeln oder etymologischen Überlegungen ableiten lassen. In diesem Lateinlexikon versuchen wir, alles so darzustellen, dass es sich mit möglichst einfachen Regel erklären und erlernen lässt. Daher sagen wir, dass die Verbalstämme der ersten drei lateinischen Verben am-, terr- und iac- lauten, während pelle- in pellere und pul- in pepulī als Unregelmäßigkeit gelernt werden müssen.
(2) Unterstämme
Ein gewöhnliches Verb leitet von seinem Verbalstamm drei Unterstämme ab, die im Lateinischen Präsensstamm, Perfektstamm und Supinstamm genannt werden. Im Deutschen und Englischen spricht man von Präsensstamm, Präteritumstamm und Passivpartizipstamm. Für jeden der drei Unterstämme gibt es mehrere Bildungsmöglichkeiten, die wir fürs Lateinische in einer Tabelle zusammengefasst haben (siehe unten). Bei jedem Verb ist für jeden Unterstamm eine bestimmte Bildungsmöglichkeit als die richtige festgelegt. Welche das jeweils ist, kann man teilweise durch Regeln erklären, muss aber in vielen Fällen auswendig gelernt werden. Die Unterstamm-Bildung ist in allen drei Sprachen derjenige Teil der Verbformenbildung, wo sich Unregelmäßigkeiten häufen.
Auf die Unterstämme werden die eigentlichen Konjugationen angewendet. Sie sind der regelmäßige Teil der Formenbildung des Verbs, da jede Konjugation überall, wo sie angewendet wird, gleich aussieht – abgesehen von wenigen unregelmäßigen Verben, die man besonders lernen muss. In der Tabelle oben sind bei den lateinischen und deutschen Verbformen die Konjugationsendungen (bzw. beim Partizip Deklinationsendungen) immer durch einen Bindestrich von den Unterstämmen getrennt. Von jedem Stamm ist nur eine der vielen möglichen Formen genannt.
Manche Formen scheinen keine Endung zu haben, bei ihnen folgt auf den Bindestrich das Lückenzeichen: _ . Da jedoch auch die Abwesenheit einer sichtbaren Endung eine Bedeutung hat, sprechen wir lieber von „leerer Endung“. Dieselben Unterstämme haben auch Formen mit sichtbarer Endung.
(3) Präsensstamm
Der deutsche Präsensstamm
• Stammkennzeichen:
— kein besonderes Kennzeichen (z.B. lieb-en), oder
— Vokal des Stamms verschieden von dem der anderen Unterstämme (z.B. werf-en gegenüber warf-_, geworfen-_).
• antretende Konjugationen:
— gewöhnliche Konjugation (z.B. ich lieb-e, er lieb-t),
— Präteritopräsens-Konjugation: hat im Präsens „starke“ Präteritumendungen (z.B. ich soll-_, er soll-_).
• davon gebildete Konjugationsformen:
— Indikativ Präsens (z.B. ich lieb-e, du lieb-st, er lieb-t, wir lieb-en, ihr lieb-t, sie lieb-en),
— Imperativ (lieb-e!, lieb-t!),
— Konjunktiv der indirekten Rede (er lieb-e; andere Verben bilden mehr Konjunktivformen),
— gleichzeitiges Aktiv-Partizip (lieb-end),
— gleichzeitiger Aktiv-Infinitiv (lieb-en).
Der englische Präsensstamm
• Stammkennzeichen:
— kein besonderes Kennzeichen (z.B. love-_), oder
— Vokal des Stamms verschieden von dem der anderen Unterstämme (z.B. drive gegenüber drove, driven (Aussprache!)).
• antretende Konjugationen:
— gewöhnliche Konjugation (z.B. he love-s),
— Präteritopräsens-Konjugation: ist im Präsens wie im Präteritum ohne Endung (z.B. he can-_).
• davon gebildete Konjugationsformen:
— Indikativ Präsens, Imperativ, Infinitiv sind nur Gebrauchsweisen, die nicht durch Endungen unterschieden sind (z.B. love-_); nur die 3.Sg. hat bei den meisten Verben im Indikativ Präsens eine Endung (he love-s);
— ein altertümlicher Konjunktiv ohne Endung existiert in der 3.Sg. (he love-_);
— ein weiterer Infinitiv sowie ein gleichzeitiges Aktiv-Partizip haben die Endung -ing (z.B. lov-ing).
Der lateinische Präsensstamm
hat seinen Namen daher, dass er unter anderem das Präsens bildet.
• Stammkennzeichen:
— zehn verschiedene Präsensstammkennzeichen (siehe die Tabelle unten).
• antretende Konjugationen:
— sieben verschiedene Konjugationen (nach anderen Zählweisen nur vier oder fünf), passend zu den sieben verschiedenen Auslautmöglichkeiten des Präsensstamms: ā, ă, ē, ĕ, ī, ĭ oder Konsonant.
• davon gebildete Konjugationsformen:
— Präsens (Indikativ + Konjunktiv, im Aktiv + Passiv; jeweils 6 Personalendungen),
— Imperfekt (Indikativ + Konjunktiv, im Aktiv + Passiv; jeweils 6 Personalendungen),
— Futur (Aktiv + Passiv; jeweils 6 Personalendungen),
— zwei Imperative (spezieller Imp. + genereller Imp., im Aktiv + Passiv; jeweils 2 bzw. 4 Personalendungen),
— zwei gleichzeitige Infinitive (darunter das Gerundium) und
— zwei gleichzeitige oder nachzeitige Partizipien (darunter das Gerundivum).
(Beispiele mit allen Formen findest du unter Konjugationen des Präsensstamms.)
Allen diesen Formen ist gemeinsam, dass sie ausdrücken, dass der mit dem Verb beschriebene Sachverhalt noch unabgeschlossen (imperfektiv) ist. Die in der Gegenwart (Präsens) befindlichen Ereignisse, Zustände usw. sind natürlicherweise noch nicht abgeschlossen. Das Imperfekt ist dazu da, unabgeschlossene Ereignisse der Vergangenheit zu beschreiben. Das Futur beschreibt Zukünftiges, das aus Sicht der Gegenwart noch nicht begonnen hat und daher auch noch nicht abgeschlossen ist. Der Imperativ fordert etwas für die Zukunft, also ebenfalls etwas noch Unabgeschlossenes. Ähnliches gilt für die Gleichzeitigkeit und Nachzeitigkeit der Infinitive und Partizipien des Präsensstamms.
(4) Perfektstamm bzw. Präteritumstamm
Der deutsche Präteritumstamm
• Stammkennzeichen:
— an den Verbalstamm angehängtes -t- (z.B. ich liebt-e), oder
— Vokal des Stamms verschieden von dem der anderen Unterstämme (z.B. warf-_ gegenüber werf-en, geworfen-_).
• antretende Konjugationen:
— „schwache“ Konjugation (z.B. ich liebt-e, er liebt-e),
— „starke“ Konjugation (z.B. ich trieb-_, er trieb-_).
• davon gebildete Konjugationsformen:
— Indikativ Präteritum (z.B. ich liebt-e, du liebt-est, er liebt-e, wir liebt-en, ihr liebt-et, sie liebt-en),
— irrealer Konjunktiv (stimmt bei lieben ganz mit dem Indikativ Präteritum überein; bei treiben lautet er: ich trieb-e, du trieb-est, er trieb-e, wir trieb-en, ihr trieb-et, sie trieb-en).
Der englische Präteritumstamm
• Stammkennzeichen:
— an den Verbalstamm angehängtes -(e)d (z.B. I loved), oder
— Vokal des Stamms verschieden von dem der anderen Unterstämme (z.B. drove gegenüber drive, driven (Aussprache!)).
• antretende Konjugationen:
— nimmt keine Endungen an, d.h. unterscheidet keine Formen mehr (z.B. loved, drove).
• davon gebildete Konjugationsformen:
— Die beiden Gebrauchsweisen Indikativ Präteritum und irrealer Konjunktiv werden nicht durch Endungen unterschieden.
Der lateinische Perfektstamm
hat seinen Namen daher, dass er unter anderem das Perfekt bildet.
• Stammkennzeichen:
— sechs verschiedene Perfektstammkennzeichen (siehe die Tabelle unten).
• antretende Konjugationen:
— Perfektstamm-Konjugation, die bei allen Verben gleich aussieht.
• davon gebildete Konjugationsformen:
— Perfekt (Indikativ und Konjunktiv, nur im Aktiv; jeweils 6 Personalendungen),
— Plusquamperfekt (Indikativ und Konjunktiv, nur im Aktiv; jeweils 6 Personalendungen),
— Futurperfekt (= Futur II) (nur im Aktiv; 6 Personalendungen),
— ein vorzeitiger Infinitiv.
(Ein Beispiel mit allen Formen findest du unter Konjugation des Perfektstamms.)
Allen diesen Formen ist gemeinsam, dass sie ausdrücken, dass der mit dem Verb beschriebene Sachverhalt abgeschlossen (perfektiv) ist. Das Perfekt hat hauptsächlich zwei Funktionen: Im Vergangenheitszusammenhang beschreibt es Ereignisse, die in der Abfolge der berichteten Ereignisse zum Abschluss kommen; im Gegenwartszusammenhang bezeichnet es Sachverhalte, die relativ zur Gegenwart (Präsens) vorzeitig und damit abgeschlossen sind. Im gleichen Sinne bezeichnet das Plusquamperfekt Vorzeitigkeit zu Sachverhalten der Vergangenheit, das Futurperfekt Vorzeitigkeit zu Sachverhalten der Zukunft und der Infinitiv des Perfektstamms Vorzeitigkeit zur jeweiligen Zeitstufe seines übergeordneten Verbs.
(5) Supinstamm bzw. Passivpartizipstamm
Der deutsche Passivpartizipstamm
• Stammkennzeichen:
— an den Verbalstamm angehängtes -t-, meist kombiniert mit der Vorsilbe ge- (z.B. geliebt-_), oder
— an den Verbalstamm angehängtes -en-, meist kombiniert mit der Vorsilbe ge-, und Vokal des Stamms verschieden von dem der anderen Unterstämme (z.B. geworfen-_ gegenüber werf-en, warf-_).
• antretende Konjugationen:
— kein sichtbares Konjugationskennzeichen
• davon gebildete Konjugationsformen:
— Passivpartizip (das wiederum Deklinationsendungen anhängt, z.B. ein geliebt-er, eine geliebt-e, ein geliebt-es, eines geliebt-en usw.).
Der englische Passivpartizipstamm
• Stammkennzeichen:
— an den Verbalstamm angehängtes -(e)d- (z.B. loved), oder
— an den Verbalstamm angehängtes -(e)n- und Vokal des Stamms verschieden von dem der anderen Unterstämme (.B. driven gegenüber drive (Aussprache!), drove).
• antretende Konjugationen:
— kein sichtbares Konjugationskennzeichen
• davon gebildete Konjugationsformen:
— Passivpartizip (das keine Deklinationsendungen anhängt).
Der lateinische Supinstamm
hat seinen Namen daher, dass er unter anderem das Supinum bildet.
• Stammkennzeichen:
— an den Verbalstamm angehängtes -t- (z.B. iact-um), oder
— an den Verbalstamm angehängtes -s- (z.B. puls-um).
(Weitere Beispiele siehe in der Tabelle unten.)
• antretende Konjugationen:
— Supinstamm-Konjugation, die bei allen Verben gleich aussieht.
• davon gebildete Konjugationsformen:
— zwei Partizipien (vorzeitiges Passivpartizip und nachzeitiges Aktivpartizip),
— zwei Infinitive (um-Supinum und ū-Supinum).
(Ein Beispiel mit allen Formen findest du unter Konjugation des Supinstamms.)
Kennzeichen der Unterstämme
In der Tabelle sind alle Unterstämme in Verbindung mit einer Endung angegeben, wie sie bei Angabe der Stammformen üblich ist:
• der Präsensstamm im Infinitiv Aktiv (bei den Präsensstämmen auf ĭ ist zusätzlich die 1.Person Singular Indikativ Präsens Aktiv angegeben);
• der Perfektstamm in der 1.Person Singular Indikativ Perfekt Aktiv;
• der Supinstamm im um-Supinum, das zufällig mit dem Nominativ Singular Neutrum des vorzeitigen Passivpartizips (= PPP) übereinstimmt.
Regelmäßigkeiten/Unregelmäßigkeiten in der Unterstammbildung
Bei den Verben, deren Infinitiv des Präsensstamms auf āre oder īre ausgeht, tritt das Kennzeichen des Präsensstamms ā oder ī meist auch im Perfektstamm in Kombination mit v (āv, īv) und im Supinstamm in Kombination mit t (āt, īt) wieder auf. Es lohnt sich, sich dies als Regel zu merken, obwohl es davon auch einige Ausnahmen gibt.
Nach der Regel z.B.:
÷ vocā-re rufen, vocāv-ī, vocāt-um,
÷ audī-re hören, audīv-ī, audīt-um.
Gegen die Regel z.B.:
÷ vetā-re verbieten, vetu-ī, vetit-um,
÷ venī-re kommen, vēn-ī, vent-um. (Beachte: Das ī von vēn-ī gehört nicht zum Stamm, sondern ist die Endung der 1.Person Singular Indikativ Perfekt Aktiv.)
Bei allen anderen Verben kann aus dem Präsensstamm nicht abgeleitet werden, mit welchem Kennzeichen der Perfektstamms und der Supinstamm gebildet werden. Das bedeutet, dass du bei den meisten Verben die Unterstämme gezielt lernen musst. Allerdings sind in den meisten Schulwörterbücher alle unregelmäßigen Perfektstämme und Supinstämme als eigenständige Stichwörter verzeichnet mit einer Angabe des Präsensstamms, unter dem das Wort nachzuschlagen ist.
Suppletion: Der schwerste denkbare Fall von Unregelmäßigkeit der Unterstammbildung liegt vor, wenn ein Verb – unabhängig von den Unterstammkennzeichen – nicht einmal einen einheitlichen Verbalstamm besitzt, von dem alle seine Unterstämme abgeleitet sind, sondern zwei oder drei ganz verschiedene Verbalstämme einander ergänzen, um alle Formen eines Verbs bilden zu können. In einem solchen Fall sprechen wir von Suppletion (bedeutet wörtlich: Ergänzung). Suppletion liegt auch vor, wenn nur einzelne Formen eines Verbs von einem anderen Verbalstamm gebildet werden.
Folgende lateinische Verben sind suppletiv:
• fer-re tragen, Pf. tul-ī, Supin lā-t-um (3 Verbstämme: fer-, tul-, lā-);
• es-se sein, Pf. fu-ī, nachzeitiges Aktivpartizip (vom Supinstamm) fu-t-ūr-us (2 Verbstämme: es-, fu-);
• vel-le wollen, vol-ō, vī-s, vul-t (2 Verbstämme im Präsensstamm: vel- mit Varianten vol- und vul-; vī-);
• fi-e-rī werden, Pf. fac-t-us sum (2 Verbstämme: fī-, fac-);
• fac-e-re machen, gesamtes Passiv des Präsenstamms: fi-e-rī (2 Verbstämme: fac-, fī-);
• incip-e-re beginnen, Pf. coep-ī, Supin coep-t-um/incep-t-um (2 Verbstämme: incip-, coep-).
Über die Angabe der Stammformen im Wörterbuch
Bei den Verben ist die Beherrschung der Stammformen (siehe Definition oben) sehr wichtig, da du aus den Stammformen in Verbindung mit den Konjugationen alle anderen Formen des Verbs ableiten kannst! Die Konjugationen sind bei fast allen Verben regelmäßig, während die Bildung der Stammformen nur teilweise durch Regeln erklärt werden kann und daher für die meisten Verben einzeln gelernt werden muss.
Als Stammformen wurden im Lateinischen seit dem Altertum die drei Formen 1.Sg. Präsens, 1.Sg. Perfekt und Supinum angegeben, also je eine Form von jedem Unterstamm (Präsensstamm, Perfektstamm und Supinstamm); z.B.:
÷ amō, amāvī, amātum.
Aus dieser Tradition stehen in den meisten Latein-Wörterbüchern bis heute die Verben in der Form der 1.Sg. Präsens verzeichnet (amō, terreō, iaciō, pellō usw.); dahinter stehen Perfektstamm und Supinstamm. Aus der 1.Sg. Präsens ist jedoch die Konjugation des Präsensstamms nicht eindeutig ablesbar (z.B. könnte amō zur ā-Konjugation oder konsonantischen Konjugation gehören). Deshalb fügte man später hinter dem Supinstamm als vierte Angabe entweder die Nummer der Konjugation des Präsensstamms oder als zusätzliche Stammform den Infinitiv des Präsensstamms hinzu. Du findest also in vielen Wörterbüchern z.B.:
÷ amō, amāvī, amātum 1. (die Nummer bedeutet: 1.Konjugation = ā-Konjugation)
oder
÷ amō, amāvī, amātum, amāre (der Infinitiv amāre gehört eindeutig zur ā-Konjugation).
Diese Reihenfolge ist offensichtlich widersinnig, da ja die zuletzt genannte Angabe „1.“ oder „amāre“ den Konjugationstyp der am Anfang stehende Form amō erklären soll. Daher findet sich in neueren Wörterbüchern die Reihenfolge:
÷ amō, amāre, amāvī, amātum.
In den allerneusten Wörterbüchern werden die Verben endlich wie in modernen Fremdsprachen im Infinitiv verzeichnet, sodass sich folgende Ordnung der Stammformen ergibt:
÷ amāre, amō, amāvī, amātum.
Beachte: Zu einem lateinischen Verb werden vier Stammformen angegeben, obwohl es nur drei Unterstämme hat (Präsensstamm, Perfektstamm und Supinstamm). Die 1.Sg. Präsens und der Infinitiv gehören nämlich zum selben Stamm, dem Präsensstamm. Die Angabe der 1.Sg. Präsens ist bei den meisten Verben eigentlich überflüssig, da du diese Form aus dem Infinitiv des Präsensstamms ableiten kannst, indem du die Infinitivausgänge folgendermaßen ersetzest:
• āre > ō (z.B. amāre > amō)
• are > ō (dare > dō)
• ēre > eō (z.B. terrēre > terreō)
• ere > ō (z.B. pellere > pellō)
• īre > iō (z.B. audīre > audiō)
Achtung: Bei den Infinitiven auf -ere gibt es eine kleine Gruppe von Ausnahmen: die Verben, deren Präsensstamm der ĭ-Konjugation folgt. Bei ihnen geht die 1.Sg. Präsens auf iō aus (z.B. facere, faciō machen). Die wenigen Verben mit ĭ-Konjugation solltest du dir daher besonders gut einprägen. Alle anderen Infinitive auf -ere gehören dann zur konsonantischen Konjugation, die die 1.Sg. Präsens auf ō (ohne vorausgehendes i) bildet.
Wichtig ist auch, dass du die Infinitiv-Endungen -ere (mit kurzem ĕ) und -ēre (mit langem ē) nicht verwechselst!