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Über das Wort „Hiat“

Genus, Betonung:  der Hiat
Plural:  die Hiate
Abkürzung:  —
Herkunft:  von lat. hiātus tiefes Loch, Kluft, Erdspalte; Vokalzusammenstoß  (Ein Vokalzusammenstoß war für den Römer eine Art Loch, da zwischen den Vokalen ein Konsonant fehlt. Das direkte Zusammentreffen zweier Vokale galt in Versen als unschön, da man hierbei im Lateinischen die Silbengrenze nicht so deutlich hören konnte, wie wenn ein Konsonant dazwischenstand.)

 

Definitionen

• Unter „Hiat“ versteht man das Zusammentreffen zweier Vokale, die zu verschiedenen Silben gehören, also keinen Diphthong bilden.

• Ein „Binnenhiat“ ist ein Hiat, bei dem innerhalb eines Wortes zwei Vokale zusammentreffen (z.B. enthält das Wort Hiat oder lateinisch hiātus selber einen Hiat, weil darin i und ā zusammenstoßen).

• Ein „Außenhiat“ ist ein Hiat, bei dem an einer Wortgrenze zwei Vokale zusammentreffen, d.h. innerhalb eines Satzes ein Wort auf Vokal endet, während das nächste Wort mit Vokal beginnt.

 

Vorkommen im Deutschen

(1)  Außenhiat

Außenhiate gibt es im Deutschen nicht, da alle Wörter mit Konsonant anfangen. Die Wörter, die in der Schreibung mit Vokal beginnen, haben vor diesem in der Aussprache noch einen nicht geschriebenen Konsonanten, den Kehlkopfverschluss (= glottaler Plosiv), populär auch „Knacklaut“ genannt. In der Lautschrift ist sein Zeichen: Ɂ, es sieht also ungefähr aus wie ein Fragezeichen ohne Punkt. (In Wörterbüchern wird in Ausspracheangaben dieses Zeichen meist weggelassen.) — Z.B.:  
÷ „zu uns“ bildet keinen Hiat, denn die Aussprache ist: ; daher könnte man schreiben:  zu Ɂuns.

(2)  Binnenhiat

Bei zusammengesetzten Wörtern und Wörtern mit Präfix (= Vorsilbe) verhindert den Hiat der Kehlkopfverschluss des zweiten Bestandteils. Z.B.: 
÷ zu + Ɂerst  >  zuɁerst
÷ be- + Ɂantworten  >  beɁantworten

Bei Suffixen (= Nachsilben) tritt tatsächlich ein Hiat auf, ohne dass sich die deutsche Sprache daran stört. Hier wäre der Gebrauch des Kehlkopfverschlusses eine falsche Ausssprache. Z.B.:
÷ Genugtuung  (u + u; Suffix -ung; falsch wäre: GenugtuɁung)
÷ böiger Wind  (ö + i; Suffix -ig; falsch wäre: böɁiger)
In Fremdwörtern sind Hiate besonders häufig, z.B.:
÷ Ozean  (e + a; falsch wäre: OzeɁan)
÷ Chaos  (a + o; falsch wäre: ChaɁos

 

Vorkommen im Lateinischen

(1)  Außenhiat

Das Lateinische kennt keinen Kehlkopfverschluss, daher sind Außenhiate sehr häufig. Noch häufiger werden sie durch zwei Regeln:
• h + Vokal am Wortanlaut wird wie vokalischer Anlaute gerechnet, d.h. das h wurde extrem schwach oder gar nicht gesprochen. Z.B.:
  ÷ saxa horrenda  bildet Hiat.
• Vokal + m im Wortauslaut wird wie vokalischer Auslaut gerechnet, d.h. das m wurde nicht separat gesprochen, sondern machte den vorausgehenden Vokal zu einem nasalierten Langvokal. Z.B.:
  ÷ illum exspīrantem  bildet Hiat.

Beachte, dass in der Kombination i + Vokal (ausgenommen i, ī) im Anlaut der meisten Wörter der Buchstabe i wie [j] gesprochen wird. Dieser Laut verursacht als Konsonant natürlich keinen Hiat. Z.B.: 
  ÷ tēlō iacet  bildet keinen Hiat.

In Versen hat das Lateinische Hiate als störend betrachtet, da hierbei die Silbengrenze weniger deutlich empfunden wird, als wenn Vokale durch Konsonanten getrennt sind. Daher werden Außenhiate so weit wie möglich vermieden. Dazu dienen folgende Mittel:

(a)  Wortstellung:  Da die lateinische Wortstellung ziemlich frei ist, findet man für die meisten Sätze eine Wortreihenfolge, bei der kein Außenhiat auftritt. Da die Wortreihenfolge jedoch mit ihren langen und kurzen Silben zum Versschema passen muss, ist nicht jede grammatisch zulässige Wortreihenfolge wirklich möglich.

(b)  Wortwahl:  Wenn mehrere Wörter die gleiche Bedeutung haben, gebraucht man davon eines, das an der konkreten Versstelle keinen Hiat erzeugt. Z.B.:
÷ Für „und“ kann man et wählen, wenn dahinter ein Vokal folgt,
   aber -que (nachgestellt), wenn davor ein Vokal steht.

(c)  Elision:  Der Hiat zwischen zwei Wörtern wird beseitigt, indem der Auslautvokal des ersten Wortes wegfällt (Beispiele siehe unter Elision).

(d)  Aphärese:  Der Hiat zwischen zwei Wörtern wird beseitigt, indem der Anlautvokal des zweiten Wortes wegfällt (Beispiele siehe unter Aphärese).

Der Hiat bleibt ausnahmsweise stehen, wenn in einem Vers keines der genannten Mittel anwendbar ist.
Beispiele (elidierte Vokale eingeklammert, H = Hiat):

÷ Lā́mentī́s gemitū́qu(e) et fḗmineṓHululā́tū 
   tḗcta fremúnt; resonát magnī́s plangṓribus áethēr.
   Jammergeschrei und Gestöhn und der Weiber greulich Geheule
   gellen durchs Haus, und es hallt der Himmel von Schlägen der Trauer.
   (Hexameter; Vergil: Aeneis 4:667f; freie Übersetzung: Wolfgang Töpler)

÷ Sī́ pereṓ,Hhominúm manibús periī́sse iuvā́bit.
   Wenn ich schon sterb’, ist’s mein Trost, von Menschenhänden zu sterben.
   (Hexameter; Vergil: Aeneis 3:606; freie Übersetzung: Wolfgang Töpler)

 

(2)  Binnenhiat

Binnenhiate werden im Lateinischen normalerweise nicht beseitigt. Es gilt jedoch die Regel, dass im Binnenhiat der erste Vokal, wenn er lang ist, gekürzt werden muss. Z.B.:

÷ 1.Sg.Präsens von monēre:  *monēō > moneō ich mahne
÷ 3.Pl.Präsens von audīre:  *audīunt > audiunt sie hören
÷ prō vor + avus Großvater  >  proavus Urgroßvater
÷ prō vor + habēre haben, halten  >  prohibēre fernhalten, hindern

In den ersten beiden Beispielen wirkt sich die Vokalkürzung auf den Wortakzent aus: Statt der vorletzten Silbe wird die drittletzte betont. In allen Fällen wirkt sich die Vokalkürzung auf die Silbenquantität im Vers aus.

Genaueres zur Vokalkürzung im Binnenhiat samt Ausnahmen findest du unter Lautregeln: Vokalkürzungsregeln (3).