Über das Wort „Perfekt“
Genus, Betonung: das Perfekt (nicht: Perfekt!)
Plural: die Perfekte
Abkürzung: Perf., Pf.
Herkunft: von lat. tempus perfectum die vollendete Zeit (perfectus vollendet ist das vorzeitige Passivpartizip (= PPP) von perficere vollenden)
Definition
Das „Perfekt“ ist ein Tempus. Unter „Perfekt“ versteht man diejenigen Verbformen, die ausdrücken, dass der beschriebene Sachverhalt
• in der Vergangenheit liegt, d.h. vor der Zeit, wo der Satz gesprochen oder geschrieben wurde, und
• im Textzusammenhang als abgeschlossen (= vollendet) angesehen wird.
Erläuterung: Das Gegenstück zur vollendeten Vergangenheit des Perfekts ist die unvollendete Vergangenheit des Imperfekts.
Formen
Aktiv und Passiv des lateinischen Perfekts werden verschieden gebildet:
• Das Aktiv wird vom Perfektstamm gebildet und verwendet Endungen der Perfektstammkonjugation.
• Das Passiv wird gebildet, indem das vorzeitige Passivpartizip (= PPP) mit dem Präsens von esse sein kombiniert wird. Die Formen des Perfekt Passivs haben wir in der Tabelle der Perfektstammkonjugation mit aufgeführt.
Funktionen
(A) deutsches Perfekt und englisches Present perfect
• Das deutsche Perfekt bezeichnet eine Vergangenheit im Gegenwartszusammenhang oder im Aktiv gelegentlich ein Resultat eines vergangenen Ereignisses in der Gegenwart. Die Hauptfunktion des lateinischen Perfekts, nämlich als Erzähltempus der Vergangenheit, ist in gutem Hochdeutsch nicht erlaubt. Hierfür verwenden wir das (einfache) Präteritum.
• Während das deutsche Perfekt sich meist tatsächlich auf einen abgeschlossenen Sachverhalt bezieht, ist im Englischen die Bezeichnung „present perfect“, also „vollendete Gegenwart“, für das damit bezeichnete Tempus völlig unpassend, da es sich weder um eine Gegenwart handelt noch um etwas Vollendetes: Dieses Tempus drückt aus, dass der beschriebene Sachverhalt der Vergangenheit auf die eine oder andere Weise noch bis in die Gegenwart fortdauert, also unabgeschlossen ist.
(B) lateinisches Perfekt
(1) Erzähltempus der Vergangenheit
Als Erzähltempus bezeichnet der Indikativ Perfekt in Hauptsätzen aufeinanderfolgende Ereignisse der Vergangenheit, wobei jedes Ereignis zum Abschluss kommt, bevor das nächste eintritt. Die Nebensätze stehen meist in anderen Tempora oder Modi oder in Infinitiven oder Partizipien. Das Perfekt als Erzähltempus wird immer mit deutschem Präteritum übersetzt. Z.B.:
÷ Dum haec in colloquio geruntur, Caesari nuntiatum est equites Ariovisti lapides telaque in nostros coicere. Caesar loquendi finem fecit seque ad suos recepit suisque imperavit, ne quod omnino telum in hostes reicerent.
Während dies in der Besprechung verhandelt wurde, wurde Cäsar gemeldet, dass Reiter des Ariovist Steine und Wurfgeschosse auf unsere Leute schleuderten. Cäsar (machte ein Ende des Redens =) beendete das Gespräch, kehrte zurück zu seinen Leuten und befahl ihnen, (überhaupt nicht irgendein =) kein einziges Geschoss auf die Feinde zurückzuschleudern. (Caesar: De bello Gallico 1:46:1f)
(2) Vorzeitigkeit zur Gegenwart
In einem Gegenwartszusammenhang wird das Perfekt verwendet, um einzeln erwähnte Sachverhalte der Vergangenheit zu kennzeichnen, die man aus Sicht der Gegenwart als abgeschlossen betrachtet. Es bezeichnet also Vergangenes aus Sicht der Gegenwart und wird daher mit deutschem Perfekt wiedergegeben. Z.B.:
÷ Nihil mihi nunc scito tam deesse quam hominem eum, quocum omnia, quae me cura aliqua afficiunt, una communicem. Abest enim frater amantissimus. Tu autem, qui saepissime curam et angorem animi mei sermone et consilio levavisti tuo, qui mihi et in publica re socius et in privatis omnibus conscius esse soles, ubinam es?
Wisse, dass mir gegenwärtig nichts so sehr fehlt wie ein solcher Mensch, mit dem ich alles, was mir irgendeine Sorge bereitet, gemeinsam besprechen könnte. Mein sehr geliebter Bruder ist nämlich fort. Du aber, der du sehr oft die Sorge und Angst meines Geistes durch dein Gespräch und deinen Rat erleichtert hast, der du mir in Staatsgeschäften ein Gefährte und in allen Privatangelegenheiten ein Vertrauter zu sein pflegst, wo bist du bloß? (Cicero: Ad Atticum 1:18:1)
(3) Resultat in der Gegenwart
In einem Gegenwartszusammenhang kann das Perfekt das gegenwärtige Ergebnis eines Ereignisses der Vergangenheit bezeichnen. Im Passiv haben wir im Deutschen für diese Funktion das Resultativperfekt (= Perfekt Passiv ohne „worden“, z.B.: „Die Stadt ist zerstört“ statt „… ist zerstört worden“). Im Aktiv müssen wir ersatzweise das Perfekt verwenden. Z.B.:
÷ Aktiv: Suebi centum pagos habere dicuntur, ex quibus quotannis singula milia armatorum bellandi causa ex finibus educunt. Reliqui, qui domi manserunt, se atque illos alunt. … In eam se consuetudinem adduxerunt, ut locis frigidissimis neque vestitus praeter pelles habeant quicquam, et laventur in fluminibus.
Die Sueben sollen hundert Gaue haben, aus denen sie alljährlich je tausend Bewaffnete aus ihrem Gebiet herausführen, um Krieg zu führen. Die Übrigen, die zuhause geblieben sind, ernähren sich und die anderen. … Sie haben sich (zu der Gewohnheit gebracht =) angewöhnt, an den kältesten Orten (nicht irgendetwas der Kleidung =) keinerlei Kleidung außer Fellen anzuhaben und sich in Flüssen zu waschen. (Caesar: De bello Gallico 4:1:4+10)
÷ Passiv: Iumenta, quae sunt apud eos nata, parva atque deformia sunt.
Die Lasttiere, die bei ihnen geboren sind, sind klein und hässlich. (Caesar: De bello Gallico 4:2:2)
Einige Verben kommen nur oder besonders häufig in resultativ gebrauchten Formen vor, und zwar im resultativen Perfekt, resultativen Plusquamperfekt und resultativen Futurperfekt (= Futur II). Diese sind vor allem:
• nōvisse, cognōvisse erfahren haben = wissen
(zu Präsensstamm nōscere, cognōscere erfahren, kennen lernen)
• suēvisse, cōn-suēvisse, as-suēvisse sich gewöhnt haben = gewohnt sein
(zu Präsensstamm suēscere, cōn-suēscere, as-suēscere sich gewöhnen)
• meminisse, com-meminisse sich in Erinnerung gerufen haben = in
Erinnerung haben, sich erinnern (reduplizierter Perfektstamm me-min-,
zu Präsensstamm com-minīscere sich in Erinnerung rufen, sich ausdenken)
• ōdisse hassen (ursprünglich: in Zorn geraten sein = erzürnt sein,
zu einem verloren gegangenen Präsensstamm)