Andere Bezeichnung: Verbum dēfectīvum
Definition
Ein „defektives Verb“ ist ein Verb, das nicht sämtliche Formen der Konjugation bilden kann.
BESTAND
(A) Verben ohne Präsensstamm
Nur im Perfektstamm kommen folgende Verben vor:
(1) ōdisse hassen
Die Formen des Perfektstamms haben die Bedeutung der entsprechenden Formen des fehlenden Präsensstamms, z.B.:
÷ ōdisse hassen (Inf.Aktiv des Perfektstamms > Inf.Aktiv des Präsensstamms)
÷ ōdī ich hasse (Ind.Perfekt > Ind.Präsens)
÷ ōderam ich hasste (Ind.Plusquamperfekt > Ind.Imperfekt)
÷ ōderō ich werde hassen (Ind.Futurperfekt = Futur II > Ind.Futur)
÷ ōderim ich mag/möge hassen (Kjv.Perfekt > Kjv.Präsens)
÷ ōdissem ich würde hassen (Kjv.Plusquamperfekt > Kjv.Imperfekt)
Vom Supinstamm existiert nur das nachzeitige Aktivpartizip (= PFA):
ōsūrus hassen werdend; einer, der hassen wird
(2) meminisse sich erinnern
Die Formen des Perfektstamms haben die Bedeutung der entsprechenden Formen des fehlenden Präsensstamms, z.B.:
÷ meminisse sich erinnern (Inf.Aktiv des Perfektstamms > Inf.Aktiv des Präsensstamms)
÷ meminī ich erinnere mich (Ind.Perfekt > Ind.Präsens)
÷ memineram ich erinnerte mich (Ind.Plusquamperfekt > Ind.Imperfekt)
÷ meminerō ich werde mich erinnern (Ind.Futurperfekt = Futur II > Ind.Futur)
÷ meminerim ich mag/möge mich erinnern (Kjv.Perfekt > Kjv.Präsens)
÷ meminissem ich würde mich erinnern (Kjv.Plusquamperfekt > Kjv.Imperfekt)
Entstehung: Ursprünglich handelte es sich um Formen eines Verbs, das im Präsens „sich etwas in Erinnerung rufen“ bedeutete. Dazu gehörte das Perfekt meminisse in der Bedeutung „sich etwas in Erinnerung gerufen haben“, was bei resultativer Auffassung (Resultat = bleibendes Ergebnis des Vorgangs) der Bedeutung in unseren Texten entspricht: „etwas in Erinnerung haben, sich an etwas erinnern“.
(3) Alle anderen Verben ohne Präsensstamm wurden zu Bestandteilen der suppletiven Verben (siehe unten).
(B) Verben ohne Perfektstamm
(1) Alle Deponentien, also Verben, die keine Aktivformen bilden (siehe (D)), können keinen Perfektstamm besitzen, da ein Perfektstamm nur zur Bildung von Aktivformen verwendet werden kann.
(2) Viele Zustandsverben haben keinen Perfektstamm, da ihnen für die Vergangenheit statt des Perfekts das vom Präsensstamm gebildete Imperfekt (für Unabgeschlossenes) ausreicht. Sie verzichten auf die seltener gebrauchten Tempora Plusquamperfekt und Futurperfekt (= Futur II). Das Fehlen des vorzeitigen Infinitivs (wie z.B. vocāvisse) ist jedoch für die indirekte Rede ein schwerwiegender Nachteil. Auch ein Irrealis der Vergangenheit (Kjv. Plusquamperfekt) lässt sich nicht bilden. Z.B.:
÷ furere wüten, rasen
÷ maerēre trauern, betrauern
÷ albēre weiß sein (aber: candēre weiß sein hat canduisse)
÷ vergere geneigt sein
÷ impendēre drohen = drohend bevorstehen
(3) Sonstige Verben ohne Perfektstamm, z.B.:
÷ ferīre schlagen, treffen
÷ amicīre umhüllen, bekleiden
÷ metere ernten
(C) Verben ohne Supinstamm
Zahlreiche Verben besitzen keinen Supinstamm. Daher können sie weder ein vorzeitiges Passivpartizip (= PPP) bilden noch die damit umschriebenen Formen Perfekt Passiv, Plusquamperfekt Passiv, Futurperfekt (= Futur II) Passiv, vorzeitiger Passivinfinitiv. Zumeist bilden sie überhaupt kein Passiv, gehören also auch in Gruppe (E) (umgekehrt besitzen aber die meisten Verben aus (E) einen Supinstamm zur Bildung des nachzeitigen Aktivpartizips = PFA). Verben ohne Supinstamm verzichten auch auf einige weniger wichtige Aktivformen: ein nachzeitiges Aktivpartizip (= PFA) samt der damit umschriebenen Formen (nachzeitige Tempora im Aktiv und nachzeitiger Aktivinfinitiv), außerdem die Supina.
(1) Von den Verben ohne Perfektstamm (siehe (B)) besitzen nur die Deponentien (siehe (D)) einen Supinstamm. Ausnahme: amicīre umhüllen, bekleiden hat einen Supinstamm (vorzeitiges Passivpartizip = PPP: amictus umhüllt, bekleidet).
(2) weitere Zustandsverben:
(a) passivfähige, sehr wenige, z.B.:
÷ tenēre halten, besitzen
÷ timēre und metuere (sich) fürchten
(b) nicht passivfähige (siehe (E)), sehr viele, z.B.:
÷ egēre bedürfen
÷ flōrēre blühen
÷ patēre offenstehen
÷ pendēre hängen = aufgehängt sein
(3) sonstige Verben ohne Supinstamm, z.B.:
÷ arcēre abwehren
÷ fallere täuschen
÷ studēre sich bemühen
÷ salīre springen
(D) Verben ohne Aktiv (= Deponentien)
Zahlreiche lateinische Verben bilden nur Passivformen; man bezeichnet sie als „Deponentien“ (Singular: das Deponens). Manche Deponentien haben tatsächlich Passiv-Bedeutung, andere Reflexiv-Bedeutung, wieder andere haben Aktiv-Bedeutung und müssen daher auch mit Aktiv übersetzt werden. Alle Informationen über Deponentien findest du unter Deponens.
(E) Verben ohne Passiv
(1) Alle intransitiven Verben, d.h. Verben, die kein Akkusativobjekt haben können, bilden kein Passiv, da im Lateinischen das Akkusativobjekt des Aktivs zum Subjekt des Passivs werden muss. Die meisten dieser Verben gehören bestimmten Bedeutungsgruppen an.
Ausnahme: Intransitive Verben mit persönlichem Subjekt können in der 3.Person Singular ein Passiv mit der Bedeutung eines Aktivs der unbestimmten Person bilden; z.B.:
÷ ītur es wird gegangen = man geht
÷ dormītur es wird geschlafen = man schläft
(a) Verben mit passivischer Bedeutung, d.h. deren Subjekt vom Verbinhalt passivisch betroffen ist (überwiegend Zustandsverben), benötigen kein Akkusativobjekt (= Patiens) und kein Passiv; z.B.:
÷ cadere fallen
÷ crēscere wachsen
÷ dormīre schlafen
÷ pendēre hängen = aufgehängt sein
÷ ārdēre brennen
÷ albēre weiß sein
÷ esse sein, existieren
÷ vīvere leben
(b) Verben mit reflexiver Bedeutung, d.h. deren Subjekt die Handlung an sich selbst vollzieht, benötigen kein Akkusativobjekt (= Patiens) und kein Passiv. Es handelt sich überwiegend um Verben der Fortbewegung. Z.B.:
÷ īre gehen
÷ volāre fliegen
÷ salīre springen
÷ sedēre sitzen
(c) sonstige intransitive Verben, z.B.:
÷ labōrāre arbeiten
÷ lacrimāre weinen
(2) Wenige transitive Verben, d.h. Verben, die ein Akkusativobjekt haben können, können trotzdem kein Passiv bilden, z.B.:
÷ velle wollen
÷ facere machen (als Passiv wird fierī werden, gemacht werden verwendet; siehe unten: suppletive Verben)
÷ docēre in der Bedeutung lehren (als Passiv wird discere lernen, gelehrt werden verwendet; siehe unten: suppletive Verben)
(F) suppletive Verben
Einige Verben bilden ihre Formen von zwei oder drei verschiedenen Verbalstämmen. Hierbei haben sich zwei bzw. drei ursprüngliche Verben mit ähnlicher Bedeutung, die jedes für sich nur einen Teil der Konjugation bildeten, zu einem einzigen vollständigen Verb zusammengeschlossen. Diese sogenannte Suppletion (= gegenseitige Ergänzung) kann sich auf die Unterstämme des Verbs oder auf die Diathese (= Genus verbi: Aktiv/Passiv) beziehen. Alles über suppletive Verben findest du unter Suppletion.
(G) Verben, die nur 3.Ps. bilden (= unpersönl. Vb.)
Die sogenannten „unpersönlichen Verben“ können wegen ihrer Bedeutung keine Person als Subjekt haben. Daher sind bei ihnen Formen für die 1.Person (ich, wir) oder 2.Person (du, ihr) nicht sinnvoll. Verben, die gar kein Subjekt oder nur einen Nebensatz als Subjekt haben können, benötigen außerdem keinen Plural. Unpersönliche Verben sind in Wörterbüchern, die grundsätzlich eine 1.Person Singular als Stichwort (Nennform) verwenden, meist in der 3.Person Singular eingetragen.
(1) Verben ohne Subjekt
(a) Verben, die Naturerscheinungen ausdrücken, z.B.:
÷ pluit es regnet
÷ lūcēscit es dämmert, es wird Tag
÷ fulgurat es blitzt
Gelegentlich werden Götter als Subjekt solcher Verben gesetzt, z.B.:
÷ Iuppiter fulgurat. Jupiter blitzt.
Daher könnte der Gott theoretisch von sich selbst sagen:
÷ *fulgurō ich blitze,
doch kommen solche Ausdrücke in der Praxis so gut wie nie vor.
(b) subjektlose Verben der Empfindung, nur:
• mē piget mich ärgert = ich ärgere mich über;
• mē pudet mich beschämt = ich schäme mich + Gen./wegen;
• mē paenitet mich reut = ich bereue;
• mē taedet mich ekelt an = ich ekle mich vor;
• mē miseret mich rührt (zum Mitleid) = ich bemitleide.
Bei diesen Verben steht die empfindende Person im Akkusativ, die Ursache der Empfindung im Genitiv. Z.B.:
÷ Mē pudet meae stultitiae.
Mich beschämt meine Dummheit (deutscher Nom.!) =
Ich schäme mich meiner Dummheit = wegen meiner Dummheit.
(Siehe auch unter Genitiv, Abschnitt: Objekt.)
(2) Verben mit unpersönlichem Subjekt
(a) Verben mit konkreter Sache als Subjekt, z.B.:
÷ fluere fließen
÷ undāre wogen
÷ frondēscere sich belauben = Laub bekommen
(b) Verben mit Sachverhalt als Subjekt, z.B.:
÷ oportet es gebührt sich
÷ licet es ist erlaubt
÷ libet es gefällt
(H) Verben, die nur wenige Formen bilden
(1) aiō ich behaupte
bildet nur folgende Formen:
• Ind.Präsens:
— aiō ich behaupte
— aīs du behauptest; mit aīn? (< *aīs-ne?) behauptest du? = wirklich?
— ait er behauptet
— aiunt sie behaupten
• Kjv.Präsens:
— aiat er mag/möge behaupten
• Ind.Imperfekt in allen Formen:
— aiēbam ich behauptete, usw.
• gleichzeitiges Aktivpartizip (= PPA) aiēns (Gen. aientis) behauptend
(2) inquam ich sage
bildet nur folgende Formen:
• Ind.Präsens:
— inquam ich sage (statt *inquiō); auch als Vergangenheit: ich sagte, habe gesagt
— inquis du sagst, sagtest, hast gesagt
— inquit er sagt, er sagte, hat gesagt
— inquimus wir sagen, sagten, haben gesagt
— inquitis ihr sagt, ihr sagtet, ihr habt gesagt
— inquiunt sie sage, sie sagten, sie haben gesagt
• Ind.Imperfekt:
— inquībat er sagte
• Ind.Futur:
— inquiēs du wirst sagen
— inquiet er wird sagen
• Ind.Perfekt:
— inquiī ich sagte, habe gesagt
— inquīstī du sagstest, hast gesagt
Das Verb wird in die wörtliche Rede eingeschoben, z.B.:
÷ „Est igitur“, inquit Āfricānus, „rēs pūblica rēs populī.“
„Es ist also“, sagte Africanus, „das Gemeinwesen die Sache des Volkes.“
(Cicero: Dē rē pūblicā 1:37)
÷ Atque ūnus ex captīvīs, „Quid vōs“, inquit, „hanc miseram sectāminī praedam?“
Und einer von den Gefangenen sagte: „Was jagt ihr dieser armseligen Beute nach?“
(Caesar: Dē bellō Gallicō 6:35:8)
(3) salvēre gesund sein
kommt nur in Grußformeln vor, bildet daher nur Infinitiv und Imperative:
— Salvē! (Sei gesund! =) Sei gegrüßt!
— Salvēte! (Seid gesund! =) Seid gegrüßt!
— Eum salvēre iubeō! (Ich fordere ihn auf, gesund zu sein! =) Ich grüße ihn!, Ich lasse ihn grüßen!
(4) avēre (auch: havēre) gesund sein
kommt wie salvēre nur in Grußformeln vor (meist zum Abschied), bildet daher nur Infinitiv und Imperative:
— Avē! (Sei gesund! =) Sei gegrüßt!, Lebe wohl!
— Avēte! (Seid gesund! =) Seid gegrüßt!, Lebt wohl!
— Eum avēre iubeō! (Ich fordere ihn auf, gesund zu sein! =) Ich grüße ihn!, Ich lasse ihn grüßen!,
Ich sage ihm Lebewohl!, Ich lasse ihm Lebewohl sagen!
(5) quaesō ich bitte
und quaesumus wir bitten
werden nur in diesen beiden Formen als Formel wie das deutsche „bitte!“ verwendet.
(I) Verben, denen nur wenige Formen fehlen
Die wichtigsten Fälle von fehlenden einzelnen Verbformen sind in diesem Abschnitt zusammengefasst.
(1) Supinum
Es gibt nur sehr wenige Verben, von denen in der uns erhaltenen Literatur beide Supina vorkommen. Gewöhnlich besitzen die Verben entweder das Supinum auf -um oder das Supinum auf -ū oder (meist) keins von beiden. Das dürfte zum großen Teil auf reinem Zufall beruhen, denn bis zum Ende der Antike ist nur eine begrenzte Textmenge überliefert, die nicht alle Formen enthält, die tatsächlich irgendwann einmal verwendet worden sind. Das u-Supinum blieb offenbar immer auf etwa zwei Dutzend Verben beschränkt. Das um-Supinum wurde von zahlreichen Verben gebildet, starb aber in der nachklassischen Zeit aus. Z.B.:
÷ von augēre vermehren:
— auctum um zu vermehren ist belegt
— *auctū zu vermehren ist nicht belegt
÷ von facere machen:
— *factum um zu machen ist nicht belegt
— factū zu machen ist sehr häufig belegt
÷ von comparāre beschaffen:
— *comparātum um zu beschaffen ist nicht belegt
— *comparātū zu beschaffen ist nicht belegt
÷ von audīre hören:
— audītum um anzuhören ist belegt (z.B. Horaz: Satiren 2:4:89)
— audītū zu hören ist sehr häufig belegt
Daher verwenden wir audītum/audītū als Beispiele bei Konjugation des Supinstamms.
(2) esse sein, hat keine Passivformen und ist suppletiv (siehe oben); außerdem fehlen:
— Gerundium *sendī des Seins
— nt-Partizip *sēns (Gen. sentis) seiend (jedoch: ab-sēns, prae-sēns, pot-ēns)
(3) velle wollen, nōlle nicht wollen, mālle lieber wollen, haben keine Passivformen; außerdem fehlen:
— alle Imperative von velle und mālle (vel! wolle! ist umfunktioniert zum Adverb sogar,
wie zum Beispiel und zur Konjunktion oder)
— 2./3.Sg. und 2.Pl.Ind.Präs. von nōlle (Umschreibungen: nōn vīs, nōn vult, nōn vultis)
— Gerundium *māllendī des Lieberwollens
— nt-Partizip *māllēns lieber wollend
(4) fierī werden, gemacht werden, hat außer dem Infinitiv keine Passivformen und ist suppletiv (siehe oben); außerdem fehlt:
— nt-Partizip *fīēns werdend, gemacht werdend