Zeitgeschichtliche Rahmenbedingungen
Die ersten 15 Jahre der Bundesrepublik standen aus der Sicht vieler Schriftsteller im Zeichen der Restauration: Wirtschaftlicher Aufschwung und Konsumorientierung waren in ihren Augen mit geistiger Verkrustung, politischer Kritiklosigkeit und angepasstem Verhalten verbunden. Eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit fand nach ihrer Ansicht kaum statt. Amerikas Krieg in Vietnam zeigte in der Bundesrepublik starke innenpolitische Wirkungen. Die außerparlamentarische Opposition (APO) war der Reflex auf die Bildung der großen Koalition von CDU und SPD (1966) und damit auf das Fehlen einer wirklichen Opposition. Die APO fand insbesondere bei Studenten großen Anklang. Von der allgemeinen Politisierung dieser Zeit blieb auch die Literatur nicht ausgenommen, zumal sich seit Bildung der Bundesrepublik viele Schriftsteller als kritische Warner verstanden.
Kennzeichen der literarischen Bewegung
Eine besondere Bedeutung kam der Dokumentarliteratur zu, die vor allem die Funktion der Gesellschaftskritik erfüllte. Verarbeitet wurde dabei Tatsachenmaterial aus Interviews, Presseberichten, Protokollen und Prozessakten, das im Sinne der Intention gestaltet wurde.
BEISPIELE
- Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter (1963)
In dem weltweit bekannten Stück geht es um Kritik an der Haltung von Papst Pius XII. und der katholischen Kirche gegenüber der Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten.
- Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen (1965)
Das Material dieses Theaterstückes entstammt dem Auschwitzprozess (Dez. 1963 bis August 1965 in Frankfurt/Main). Die ersten fünf „Gesänge“ sind überschrieben:
- 1. Gesang von der Rampe, 2. Gesang vom Lager,3. Gesang von der Schaukel, 4. Gesang von der Möglichkeit des Überlebens, 5. Gesang vom Ende der Lili Tofler. Der letzte Teil trägt die Überschrift: 11. Gesang von den Feueröfen.
- Günter Wallraff: Der Aufmacher (1977), Ganz unten (1985)
Der Schriftsteller nahm für seine kritischen Reportagen, mit denen er soziale Missstände aufdecken will, falsche Identitäten an, um entsprechend recherchieren zu können. Das Buch Ganz unten, für das Wallraff in die Rolle des türkischen Arbeiters Ali schlüpfte, erreichte sechs Wochen nach Erscheinen eine Millionenauflage.
Politisches Engagement wird auch deutlich in der Lyrik Erich Frieds und in der Gesellschaftskritik Heinrich Bölls, z. B. in den Romanen/Erzählungen Ansichten eines Clowns (1963), Gruppenbild mit Dame (1971) und Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974). Auch der Schriftsteller Günter Grass nimmt in seinen Werken zu aktuellen, umstrittenen Fragen Stellung; er engagierte sich nicht nur politisch, sondern auch parteipolitisch für die SPD.
Eine besondere Bedeutung in der politischen Protestbewegung bekamen kabarettistische Formen (z. B. Franz Josef Degenhardt). In Chansons und Balladen wurden die Traditionen des Bänkelsangs und der Moritat wiederbelebt.
Einfluss gewannen auch die Formen der konkreten Poesie (z. B. Eugen Gomringer, Franz Mon, Ernst Jandl, Wolf Wondratschek) und neue experimentelle Hörspielkonzepte.
Auswahl wichtiger Autoren und Werke
Peter Weiss (1916-1982): Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen
Heinrich Böll (1917-1985): Gruppenbild mit Dame; Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Erich Fried (1921-1988): Gedichtband und Vietnam und
Heinar Kipphardt (1922-1982): In der Sache J. Robert Oppenheimer
Eugen Gomringer (geb.1925): worte sind schatten
Günter Grass (1927-2015): Örtlich betäubt; Das Treffen in Telgte
Walter Kempowski (1929-2007): Tadellöser & Wolf
Franz Xaver Kroetz (geb.1946): Wildwechsel