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Latein 1. Lernjahr ‐ Abitur

Nebenformen der Konjugation

Neben den regelmäßigen Konjugationsendungen gibt es in einigen Fällen gleichbedeutende Varianten, die aus der älteren Sprache übrig geblieben oder neu gebildet worden sind.

 

Präsensstamm

(1)  Infinitiv Passiv:  Statt der Standardkennzeichen -rī und stehen -rier bzw. -ier bei Dichtern gelegentlich, bei Cicero nur in Zitaten aus Dichtern und alten Gesetzen; z.B.:
÷ vocā-rier = vocā-rī  gerufen werden;
÷ da-rier = da-rī  gegeben werden;
÷ monē-rier = monē-rī  gemahnt werden;
÷ ag-ier = ag-ī  getrieben werden;
÷ audī-rier = audī-rī  gehört werden;
÷ cap-ier = cap-ī  gefangen werden;
÷ fer-rier = fer-rī  getragen werden.

(2)  2.Person Singular Passiv:  Statt der Standard-Personalendung -ris verwenden Cicero und die Dichter viel häufiger -re; z.B. von vocāre rufen:
÷ Indikativ Imperfekt:  vocābā-re = vocābā-ris  du wurdest gerufen;
÷ Indikativ Futur:  vocābe-re = vocābe-ris  du wirst gerufen werden;
÷ Konjunktiv Präsens:  vocē-re = vocē-ris  du mögest gerufen werden;
÷ Konjunktiv Imperfekt:  vocārē-re = vocārē-ris  du würdest gerufen.
Im Indikativ Präsens würde die entsprechende Form *vocā-re (= vocā-ris du wirst gerufen) lauten, wäre also mit dem Infinitiv Aktiv gleich. Um Missverständnisse zu vermeiden, bildet man diese Form nur von Deponentien, die ja als Passiv-Verben keinen Aktiv-Infinitiv haben können; z.B. von hortārī ermahnen:
÷ Indikativ Präsens:  hortā-re  du ermahnst  (Aktiv-Bedeutung beim Deponens!).

(3)  Gerundiv und Gerundium:  In der kons./ĕ-Konjugation, der ī-Konjugation, der ĭ-Konjugation und der nichtvokalischen Konjugation steht statt des Standardkennzeichens -end- manchmal -und-; z.B.:
÷ agundus = agendus  einer, der getrieben werden muss;
÷ audiundus = audiendus  einer, der gehört werden muss;
÷ capiundus = capiendus  einer, der gehört werden muss;
÷ ferundus = ferendus  einer, der getragen werden muss.
Bei dem Verb īre wird nur -und- gebraucht:  eundum est man muss gehen, eundī des Gehens.

 

Perfektstamm

(1)  3.Pl. Indikativ Perfekt:  Statt der Standardendung -ērunt stehen -ĕrunt (gelegentlich bei Dichtern) und -ēre (bei Sallust meistens, bei Dichtern oft, sonst selten); z.B.:
÷ habuēre = habuērunt  sie hatten (von habēre);
÷ dēfuĕrunt = dēfuērunt  sie fehlten (von dē-esse) (Hexameter-taugliche Form!).

(2)  Bei allen mit dem Kennzeichen v gebildeten Perfektstämmen gibt es für die meisten Standardformen Kurzformen. Solche Formen finden sich bei allen Schriftstellern. Wir fassen sie in den folgenden beiden Tabellen zusammen.

Abkürzungen in den Tabellen:
Fut. = Futur
Ind. = Indikativ
Kjv. = Konjunktiv
Nom. = Nominativ
Pl. = Plural  (1.Pl. = 1.Person Plural, usw.)
Sg. = Singular  (1.Sg. = 1.Person Singular, usw.)
 

 

 

 

 

Erläuterungen zu den Tabellen

(1)  In den Kurzformen sind folgende Bestandteile weggefallen:
• Bei den Perfektstämmen auf āv, ēv und ōv geht in den Kurzformen vi/ve/ verloren.
• Bei den Perfektstämmen auf īv geht in den Kurzformen allgemein v, vor s jedoch vi verloren.

(2)  Formen, die mit Präsensstamm-Formen gleich lauten würden, werden nicht gebildet, z.B.:
÷ vocā[] > *vocā  ist nicht erlaubt, da so schon die 2.Sg. des speziellen Imperativs lautet;
÷ vocā[vi]t > *vocāt > (Vokalkürzungsregel) *vocat  ist nicht erlaubt, da so schon die 3.Sg. Indikativ Präsens lautet;
÷ vocā[]mus > *vocāmus  ist nicht erlaubt, da so schon die 1.Pl. Indikativ Präsens lautet.

(3)  Einsilbige Formen werden nicht gebildet:
÷ [] > *  ist nicht erlaubt;
÷ [vi]t > *nōt > (Vokalkürzungsregel) *not  ist nicht erlaubt.

(4)  Bei dem Verb īre dienen in der klassischen Zeit (= bei Cicero und Caesar) die Kurzformen als Standardformen.