Aus einem Brief von Walter Dorn (1894–1961, US-Historiker und Berater der US-Militärregierung in Deutschland 1945–1949 – Anm. d. Red.) an General Clay über den Misserfolg der Entnazifizierung, 11. Mai 1949:
1. Wenn die Entnazifizierung in ganz Deutschland wirksam werden sollte, hätte sie in allen vier Zonen einheitlich durchgeführt werden müssen. Als diese Einheitlichkeit unwiederbringlich verloren war, büßte die Entnazifizierung viel von ihrer Bedeutung bei der deutschen Bevölkerung ein. Es genügte ja nicht, ein früheres Parteimitglied in der einen Zone als Belasteten zu verurteilen, wenn es in einer anderen ein hohes öffentliches Amt bekleiden konnte. [...]
2. Zu keiner Zeit hat sich beweisen lassen, daß die Entnazifizierung das Haupt- oder überhaupt ein ernsthaftes Hindernis wirtschaftlichen Wiederaufschwungs war, wie das so viele amerikanische Businessmen und leider auch einige Mitglieder Ihres Stabes glaubten. [...] Als General Patton auf Befehl General Eisenhowers am 29. 9. 1945 die führenden 17 aktiven Nazis im Bayerischen Landwirtschaftsministerium entließ, arbeitete dieses wirksamer als zuvor, was anhand der Erfassung der landwirtschaftlichen Produktion bewiesen werden kann. [...]
3. Das Befreiungsgesetz war, trotz seiner Vorzüge und des erhabenen Idealismus, der auf amerikanischer wie auf deutscher Seite hinter ihm stand, keine ganz befriedigende Regelung. Es führte als neues Konzept den Strafgedanken in das Entnazifizierungsverfahren ein. Deshalb war es ein Fehler, die Kontrollratsdirektive Nr. 24, die der Entlassung und Disqualifizierung [für die Bekleidung öffentlicher Ämter] dienen sollte, zum integrierenden Bestandteil des Gesetzes zu machen. [...] Diese Kritikpunkte, die sich aus der Erfahrung derjenigen ergaben, die das Gesetz durchführen sollten, wurden in der Folge bei den Änderungen des Befreiungsgesetzes berücksichtigt, die im Herbst 1947 und Frühjahr 1948 vorgenommen wurden. Zwar wurde das Gesetz durch die Änderungen für die Deutschen eher annehmbar, zugleich aber auch stumpf.
[...] Meines Erachtens gibt es [heute] allgemeine Übereinstimmung darüber, daß wir mehr Erfolg gehabt hätten, wenn die Militärregierung willkürlich die Zahl von 100 000 [der schwersten Fälle] bestimmt, das Beweismaterial gegen diese zusammengetragen und den Deutschen zur Aburteilung vorgelegt hätte.
Quelle: Klaus-Jörg Ruhl (Hg.), Neubeginn und Restauration. Dokumente zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949, München 1982, S. 290 ff.
- Was kritisiert Dorn am Prozess der Entnazifizierung?
- Trug deiner Ansicht nach die Entnazifizierung zu einer „Stunde Null“ und zu einer Demokratisierung der BRD bei? Vergleiche auch die Entwicklung der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg.