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Andere Bezeichnungen:  Ōrātiō oblīqua („schräge Rede“), (Modus) Oblīquus („schräger Modus“)

 

Definition

Unter „indirekte Rede“ versteht man jeden gesprochenen, geschriebenen oder gedachten Text, bei dem mit grammatischen Mitteln (vor allem Konjunktiv, Infinitiv) angezeigt wird, dass er nur sinngemäße Wiedergabe eines Originals ist.

Hinweis:  Das Gegenstück zur „indirekten Rede“ ist die „direkte Rede“.

 

Hauptregeln

 

(A)  Modus-Tempus-Regeln im Deutschen

Im Deutschen werden für die indirekte Rede Konjunktive verwendet, die nur die relative Zeitstufe ausdrücken, nämlich ob die Aussage im Vergleich zum übergeordneten Verb gleichzeitig, vorzeitig oder nachzeitig ist. Bei den folgenden Beispielen sind alle Konjunktivformen, die mit Indikativformen übereinstimmen, in eckige Klammern gesetzt.

(1)  Im Standardfall stehen folgende Konjunktive:
• Gleichzeitigkeit:  Konjunktiv Präsens, z.B.:
  ÷ er bitte, liebe, komme;
     sie [bitten, lieben, kommen]
• Vorzeitigkeit:  Konjunktiv Perfekt, z.B.: 
  ÷ er habe gebeten, habe geliebt, sei gekommen;
     sie [haben gebeten, haben geliebt,] seien gekommen
• Nachzeitigkeit:  Konjunktiv Futur, z.B.:
  ÷ er werde bitten, werde lieben, werde kommen;
     sie [werden bitten, werden lieben, werden kommen]

(2)  Wo der „Konjunktiv I“ mit dem Indikativ übereinstimmt, wird er durch den „Konjunktiv II“ ersetzt, der sonst für den Irrealis gebraucht wird:
• Gleichzeitigkeit:  Konjunktiv Präteritum, z.B.:
  ÷ sie bäten, [liebten,] kämen
• Vorzeitigkeit:  Konjunktiv Plusquamperfekt, z.B.:
  ÷ sie hätten gebeten, hätten geliebt
• Nachzeitigkeit:  Konjunktiv Postpräteritum = würde + Infinitiv, z.B.:
  ÷ sie würden bitten, würden lieben, würden kommen

(3)  Wo auch der „Konjunktiv II“ mit dem Indikativ übereinstimmt und Missverständnisse zu befürchten sind, darf statt Konjunktiv Präteritum würde + Infinitiv gebraucht werden (der Konjunktiv Plusquamperfekt ist immer eindeutig):
• Gleichzeitigkeit:  würde + Infinitiv; z.B.:
  ÷ sie würden lieben
     (diese Form stimmt mit dem Indikativ und Konjunktiv Postpräteritum überein)
 

(B)  Formtyp-Modus-Tempus-Regeln im Lateinischen

Im Lateinischen stehen in der indirekten Rede die Aussage-Hauptsätze im ACI, die Wunsch- und Frage-Hauptsätze und alle Nebensätze im Konjunktiv.
(Natürlich ist ein ACI immer Nebensatz zu seinem übergeordneten Verb. „Hauptsatz“ bedeutet in dieser Regel: jeder Satz, der in der direkten Rede Hauptsatz wäre.)

(1)  Der ACI drückt (wie der deutsche Konjunktiv der indirekten Rede) nur das Zeitverältnis zum übergeordneten Verb, also die relative Zeitstufe, aus:
• Gleichzeitigkeit:  gleichzeitiger Infinitiv = „Infinitiv Präsens“, z.B.:  rogāre
• Vorzeitigkeit:  vorzeitiger Infinitiv = „Infinitiv Perfekt“, z.B.:  rogāvisse
• Nachzeitigkeit:  nachzeitiger Infinitiv = „Infinitiv Futur“, z.B.:  rogātūrum esse

(2)  Konjunktivische Haupt- und Nebensätze drücken (anders als im Deutschen) sowohl die absolute als auch die relative Zeitstufe aus; da der Konjunktiv Postpräsens (als Ersatz für den fehlenden Konjunktiv Futur) und der Konjunktiv Postpräteritum nur durch umständliche Umschreibung gebildet werden können, tritt für sie meist der Konjunktiv Präsens bzw. Imperfekt ein:
(a)  Im Gegenwarts- und Zukunftszusammenhang stehen folgende Konjunktive:
• Gleichzeitigkeit:  Kjv. Präsens, z.B.:  roget
• Vorzeitigkeit:  Kjv. Perfekt, z.B.:  rogāverit
• Nachzeitigkeit:  Kjv. Postpräsens, z.B.:  rogātūrus sit, oder (häufiger) Kjv. Präsens, z.B.:  roget
(b)  Im Vergangenheitszusammenhang stehen folgende Konjunktive:
• Gleichzeitigkeit:  Kjv. Imperfekt, z.B.:  rogāret
• Vorzeitigkeit:  Kjv. Plusquamperfekt, z.B.:  rogāvisset
• Nachzeitigkeit:  Kjv. Postpräteritum, z.B.:  rogātūrus esset, oder (häufiger) Kjv. Imperfekt, z.B.:  rogāret
Ein Vergangenheitszusammenhang liegt dann vor, wenn ein übergeordnetes oder über-übergeordnetes Verb (finites Verb, Infinitiv oder Partizip) eine Vergangenheit oder Vorzeitigkeit ausdrückt.
 

(C)  Pronomen und Adverbien

Pronomen und manchmal auch Adverbien der indirekten Rede werden im Lateinischen wie im Deutschen nicht mehr aus der Perspektive des Urhebers der indirekten Rede, sondern aus der Perspektive des Urhebers des Gesamttextes gewählt. Im Lateinischen erscheint der Urheber der indirekten Rede als Reflexivpronomen (oder ersatzweise ipse). Also:

direkte Rede  >  indirekte Rede:
egō ich  >  /ipse er (selbst)
meus mein  >  suus/ipsīus sein (eigener)
nōs wir  >  /ipsī sie (selbst)
noster unser  >  suus/ipsōrum ihr (eigener)
du  >  is er
tuus dein  >  eius sein
vōs ihr  >  sie
vester euer  >  eōrum ihr
hic dieser  >  ille jener, dieser
is er  bleibt unverändert >  is er
ille jener  bleibt unverändert >  ille jener
nunc jetzt  >  tum/tunc zu jener/dieser Zeit, damals, in jener/dieser Lage, jetzt

Ebenso wird die erste und zweite Person des Verbs in die dritte Person verwandelt.
 

(D)  Beispielsätze

Abkürzungen und Zeichen:
• GZ = gleichzeitig
• VZ = vorzeitig
• NZ = nachzeitig
• [ ] = indirekte Rede in eckigen Klammern
 

(1)  Der Urheber der indirekten Rede spricht nicht von sich selber, sondern nur von anderen.

(a)  Gegenwartszusammenhang (oder Zukunftszusammenhang):
Das der indirekten Rede übergeordnete Verb steht im Präsens, der Infinitiv des ACI ist gleichzeitig (Gegenwartszusammenhang) oder nachzeitig (Zukunftszusammenhang). Z.B.:
÷ Nūntius dīcit [incolās fugereGZ, quod mīlitēs urbem dīripiantGZ].
   Der Bote sagt, [(dass) die Einwohner flöhen, weil Soldaten die Stadt plünderten (= plündern würden)].
÷ Nūntius dīcit [incolās fugereGZ, quod mīlitēs urbem dīripuerintVZ].
   Der Bote sagt, [die Einwohner flöhen, weil Soldaten die Stadt geplündert hätten].
÷ Nūntius dīcit [incolās fugereGZ, quod mīlitēs urbem dīreptūrī sintNZ].
   Der Bote sagt, [die Einwohner flöhen, weil Soldaten die Stadt plündern würden/wollten].
÷ Nūntius dīcit [incolās fugitūrōs esseNZ, quod mīlitēs urbem dīripiantGZ].
   Der Bote sagt, [die Einwohner würden/wollten fliehen, weil Soldaten die Stadt plünderten
   (= plündern würden)]
.

Wenn das der indirekten Rede übergeordnete Verb im Futur steht (Zukunftszusammenhang), bleibt die indirekte Rede im Lateinischen und Deutschen unverändert wie in den oben genannten Beispielsätzen:
÷ Nūntius dīcet ... [indirekte Rede wie oben]
   Der Bote wird sagen, ... [indirekte Rede wie oben]

(b)  Vergangenheitszusammenhang, erste Möglichkeit:
Das der indirekten Rede übergeordnete Verb steht in der Vergangenheit (in den Beispielen: Perfekt). Z.B.:
÷ Nūntius dīxit [incolās fugereGZ, quod mīlitēs urbem dīriperentGZ].
   Der Bote sagte, [(dass) die Einwohner flöhen, weil Soldaten die Stadt plünderten (= plündern würden)].
÷ Nūntius dīxit [incolās fugereGZ, quod mīlitēs urbem dīripuissentVZ].
   Der Bote sagte, [die Einwohner flöhen, weil Soldaten die Stadt geplündert hätten].
÷ Nūntius dīxit [incolās fugereGZ, quod mīlitēs urbem dīreptūrī essentNZ].
   Der Bote sagte, [die Einwohner flöhen, weil Soldaten die Stadt plündern würden/wollten].
÷ Nūntius dīxit [incolās fugitūrōs esseNZ, quod mīlitēs urbem dīriperentGZ].
   Der Bote sagte, [die Einwohner würden/wollten fliehen, weil Soldaten die Stadt plünderten
   (= plündern würden)].

BEACHTE:  Die deutsche indirekte Rede lautet bei übergeordnetem Verb der Gegenwart, der Zukunft und der Vergangenheit immer gleich, vergleiche (a) und (b)!

(c)  Vergangenheitszusammenhang, zweite Möglichkeit:
Zwar steht das der indirekten Rede übergeordnete Verb im Präsens, aber der Infinitiv des ACI ist vorzeitig. Daher sind die konjunktivischen quod-Sätze die gleichen wie unter (b). Z.B.:
÷ Nūntius dīcit [incolās fūgisseVZ, quod mīlitēs urbem dīriperentGZ].
   Der Bote sagt, [die Einwohner seien geflohen, weil Soldaten die Stadt plünderten (= plündern würden)].
÷ Nūntius dīcit [incolās fūgisseVZ, quod mīlitēs urbem dīripuissentVZ].
   Der Bote sagt, [die Einwohner seien geflohen, weil Soldaten die Stadt geplündert hätten].
÷ Nūntius dīcit [incolās fūgisseVZ, quod mīlitēs urbem dīreptūrī essentNZ].
   Der Bote sagt, [die Einwohner seien geflohen, weil Soldaten die Stadt plündern würden/wollten].
 

(2)  Der Urheber der indirekten Rede spricht von sich selber.

Beispiel für Gegenwartszusammenhang (beachte das Reflexivpronomen !):
÷ Incolae dīcunt [sē fugereGZ, quod mīlitēs urbem dīripiantGZ].
   Die Einwohner sagen, [(dass) sie (selbst) flöhen, weil Soldaten die Stadt plünderten (= plündern würden)].

 

Fragenebensätze (= „indirekte Fragen“)

Im Lateinischen gelten alle Fragenebensätze als indirekte Rede und stehen im Konjunktiv.
Im Deutschen gelten nur diejenigen Fragenebensätze als indirekte Rede und stehen im Konjunktiv, die eine Äußerung oder ein Gedanke einer im Text genannten Person sind. Alle anderen Fragenebensätze stehen im Indikativ.

(1)  Nach lateinischer und deutscher Auffassung indirekte Rede, z.B.:
÷ Imperātor interrogat, [cūr incolae urbem relīquerint].
   Der Feldherr fragt, [warum die Einwohner die Stadt verlassen hätten].

(2)  Nach lateinischer Auffassung indirekte Rede, nach deutscher Auffassung nicht, z.B.:
÷ Incertum est, [cūr incolae urbem relīquerint].
   Es ist ungewiss, [warum die Einwohner die Stadt verlassen haben].